"Behaltet mir euer Liebe", das schrieb Catharina Elisabeth Goethe in einem ihrer ca. 400 Briefe. Liest man Frau Rat Goethes Briefe, wie sich auch genannt wurde, entsteht das Bild einer liebevollen, intelligenten, aufgeklärten und sehr empathischen Frau. Sind diese Eigenschaften wohl auch ihrem berühmten Sohn, Johann Wolfgang zugutegekommen?
Wie die Mutter, so der Sohn? Oder die Tochter?
Johann Wolfgang von Goethe gilt als Genie seiner Zeit und als solches wird er auch heute noch angesehen. Der deutsche Dichter und Naturforscher hat durch seine Gedichte und auch Briefe tiefe Einblicke in seine Weltanschauung und Gefühlswelt (legt man dem lyrischen ich den wahren Goethe zugrunde) gegeben. So liegt der Schluss nahe, dass Goethe wahrscheinlich auch durch seine redegewandte und kommunikative Mutter geprägt wurde.
Unsere Einrichtungsleiterin Heike Geiges fragt sich nun, ob Goethe auch so eine erfolgreiche literarische Karriere hingelegt hätte, wäre seine Mutter nicht die gewesen, die sie nunmal war?
Gesetzmäßig- und Wahrscheinlichkeiten
In der Kinder- und Jugendhilfe fragt man sich oft: "Was war zuerst da? Das Huhn oder das Ei?". Diese Frage wird im übertragenen Sinne gestellt. Oftmals geht es hierbei um die Frage, was prägt uns? Prägen beispielsweise eher die Erzieher, also die Bezugspersonen, in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung die Kinder oder prägt die Stammfamilie ihre Nachkommen nachhaltiger, bei der die Kinder, die im Jugendhilfesystem landen aber nur einen kleinen Anteil ihrer Zeit verbringen?
Also wäre Goethe wohl auch so ein Genie gewesen, wäre er nicht bei seiner Mutter aufgewachsen oder hätten bereits die Gene genügt, damit er diese
literarische Kunst hätte zu Papier bringen können? Oder sind die ersten Jahre der Kindheit die, die uns am nachhaltigsten prägen?
Diese Fragen bleiben bestehen und sind sehr interessant, denn die Genforschung stellt fest, dass wir 99 Prozent unserer Gene mit allen Menschen gemein
haben. Und nur dieses eine kleine Prozent macht wohl uns als Individuum aus! Ist aber dieses eine Prozent nun von außen beeinflussbar oder ist dies schon so
programmiert, dass wir eben wie unsere Eltern werden?
Auf diese Frage gibt es wahrscheinlich keine Antwort. Wahrscheinlich kann man als Mitarbeiter in der Jugendhilfe von Kindern berichten, die im Erwachsenenalter im Gegensatz zur Urpsrungsfamilie ein geregeltes und eigenständiges Leben führen und auch von Kindern, die es ihren Eltern gleichtun. Genauso gibt es den umgekehrten Fall, dass Kinder und Jugendliche aus geregelten Systemen ausbrechen und beispielsweise ein Leben auf der Straße wählen. Es ist ebenfalls anzunehmen, dass letzterer Fall mit geringerer Wahrscheinlichkeit eintritt als ersterer.
Weiterhin darf man, befasst man sich tiefer mit dieser Thematik, selbstverständlich nicht außer Acht lassen, dass sehr viele Kinder und Jugendliche, die in Heimen oder familienanalogen Einrichtungen o.ä. aufwachsen, leicht bis schwer traumatisiert sind. Auch das hat starke Auswirkungen darauf, wie sich diese Kinder entwickeln.
Am Ende wünscht man aber doch einem jeden Kind eine Mutter, die sich mit den Worten empfiehlt:
„Behaltet mir Eure Liebe,
die meinige soll wahren,
biß an Grab ja drüber hinaus,
solches sagt und wills halten Eure treue Mutter Aja“.
(Joachim Seng (Hrsg.): „Briefe der Frau Rat Goethe“
Insel Verlag, Berlin.)
Dieser kleine Text soll als Denkanstoß wirken und zählt selbstverständlich zur Laienpsychologie.
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/behaltet-mir-eure-liebe-100.html